Was neben den Ausschreitungen in Hamburg rund um den G20-Gipfel auch erschreckend war, war das Ausmaß an einfachen und schnellen Schuldzuweisungen auf allen Seiten. Bei vielen Diskussionen hatte ich den Eindruck, dass man sich für ein Team entscheiden musste: Entweder man gehört zum „Team Randale“, dass nur Polizeigewalt, unverhältnismäßige Übergriffe und Provokation durch die „Bullen“ sieht und Brandstiftung, Sachbeschädigung und Plünderungen als legitime Antwort sieht oder aber man gehört zum „Team Bullenschweine“, in welchem natürlich klar ist, dass es eben die Linken sind, die ja eh immer Ärger machen, die Autonomen vom schwarzen Block eben, die per se gewalttätige Straftäter seien. Und wenn man irgendwie ein Problem sowohl mit polizeilichen Übergriffen hat, als auch mit Krawall und Randale, dann bestimmt dein Gegenüber, zu welchem Team du gehörst (Tipp: es ist immer das jeweils andere).
Leider ist das alles aber, wie so oft im Leben, nicht so simpel Schwarz-Weiß bzw. Schwarz-Grün oder Schwarz-Blau. Selbstverständlich ist ein Demo-Motto „Welcome to hell“ alles andere als ein Motto, bei dem man an eine friedliche Demo mit Blumen und lustigen Gesängen denkt. Und ja, auch die Demoaufrufe der extremen Linken sind immer besonders herzallerliebst formuliert, da sind Polizisten grundsätzlich „Bullen“ und unser Staat das Schweinesystem und alles. Aber ehrlich: Das war noch nie anders. Und solche Mottos und die heftigen Formulierungen sind immer noch etwas anderes, als tatsächliche Gewaltanwendung. Und ja, natürlich sind bei den Menschen sehr weit links auch eine Menge, die unseren Staat und das gesamte System ablehnen und abschaffen wollen. Aber die BRD ist nicht die Weimarer Republik, unsere Demokratie wurde ja gerade mit Hinblick auf diese Erfahrungen als wehrhafte Demokratie entworfen, kurz: Unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung kommt auch damit klar, wenn es ein paar Menschen gibt, die eben diese ablehnen. Ob rechts oder links.
Ich müsste lügen, würde ich behaupten, dass ich Sympathien für rechte Aufmärsche hätte, für die habe ich so wenig Sympathie wie für Krawalle, wie sie in Hamburg stattfanden, nämlich genau 0. Aber man muss sie – die Aufmärsche, nicht die Krawalle – halt ertragen, man kann dagegen selbst auf die Straße gehen, seine Meinung sagen, aber in unserer Demokratie dürfen selbst die Feinde eben dieser ihre Vorzüge nutzen. Zumindest so lange die sich dabei an grundlegende Spielregeln halten. Diese Spielregeln erlauben aber in keinem Fall, nicht einmal als Reaktion auf ein Foul durch die Polizei als Gegenspieler bei einer Demo, brandschatzend durch die Stadt zu ziehen. Nope, ist nicht drin. Das ist immer ein ganz klarer Regelverstoß, der im Rahmen der Regeln, die in unserem Rechtsstaat gelten, verfolgt und bestraft wird.
Aber diese Spielregeln geben der Polizei gewisse Spielräume. Ganz ehrlich liebe Polizeiführung: Einen Demozug nach 50m mit martialischem Auftreten zu blockieren, an einer Stelle ohne Ausweichmöglichkeit und dann in die Demo reinzugehen weil eine Minderheit einer Minderheit von Demoteilnehmern ihre echte oder vermeintliche Vermummung nicht schnell genug abgelegt hat, das wäre nicht nötig gewesen. Euch ist doch klar, dass es niemals deeskalierend sein kann, wenn man Menschen in die Enge treibt – und ihr habt da 12.000 Menschen in die Enge getrieben, weil ein paar hundert ihre Schals nicht schnell genug runtergenommen hatten? Ehrlich jetzt? Das mag zwar im Rahmen der geltenden Spielregeln korrekt gewesen sein, besonders klug war es nicht. Denn durch diesen Akt echter oder auch nur von den Demonstranten wahr genommener Provokation und Eskalation habt ihr einen Solidarisierungseffekt ausgelöst bei Umstehenden und anderen Demonstranten, die ansonsten im Leben nicht auf die Idee gekommen wären, sich mit „dem schwarzen Block“ zu solidarisieren.
Aber langsam, ich höre schon die ersten „Siehste, die Bullen haben provoziert, wie sonst hätte man darauf reagieren sollen?“-Rufe. Auf jeden Fall nicht so! Irgendwelche Gegenstände, Steine, Gehwegplatten, Feuerwerkskörper und Molotowcocktails auf Menschen zu schmeißen, Autos anzünden, Scheiben einschlagen und Geschäfte plündern ist niemals eine adäquate Antwort auf angenommene oder auch tatsächliche Fehler und Übergriffe von Polizisten. Niemals. Aber das ist ja sowieso nur eine blöde Ausrede. Selbst wenn die „Welcome to hell“-Demo bis zum Schluß gelaufen wäre, ohne Zwischenfälle, es hätte die Krawalle sehr sicher trotzdem gegeben. Die hätte es auch ohne die Demo gegeben. Schließlich waren genug Krawalltouris in Hamburg, die genau dafür in der Stadt waren. Schlimm genug, dass die durch die Stadt marodierten, noch schlimmer, dass andere Demonstranten auf den dummen Gedanken gekommen sind, sich mit denen solidarisieren zu müssen, nein, offenbar haben sich auch Menschen spontan diesem Mob angeschlossen. Krawall als Event, wenn dabei auch noch ein paar Luxusspirituosen oder sogar ein neues MacBook beim Plündern abfällt, umso besser. Nicht viel besser sind die Gaffer, die sich zwar nicht aktiv an den Ausschreitungen beteiligen, sondern „nur“ daneben (und nebenbei den Rettungskräften im Weg) stehen und zuschauen, noch schnell ein Selfie vor einer brennenden Barrikade und fertig ist die Instagram-Story. Der #Riothipster ist hier nur einer von vielen, aber derjenige, von dem es das schönste Foto gibt.
Mit Politik haben solche Krawalle nichts zu tun. Selbst wenn durch die Polizei eine Demo ohne Grund, viel zu brutal und unter wildesten Beschimpfungen aufgelöst wird, dann muss man darauf natürlich reagieren und antworten, aber niemals so. Auch für solche Fälle bietet der Rechtsstaat Wege, die mögen manchmal etwas langsam sein und nicht immer so enden, wie man es gerne hätte, aber dafür trifft es dann nicht Unschuldige. Denn wer wurde von den Ausschreitungen getroffen? Wer sind die Geschädigten? Das sind ganz normale Menschen, die da in Angst und Schrecken versetzt und deren Eigentum zerstört wurde. Nicht Trump, nicht Putin, nicht Mutti. Wie dämlich kann man sein? Okay, jetzt werden einige sagen, dass das ja irgendwelche Krawallmacher von Außerhalb gewesen wären, die Hamburger Autonomen hätten da kein Verständnis, wenn das Motto „Man scheißt nicht dort, wo man isst“ ignoriert würde, so zumindest kann man mit viel guten Willen den Sprecher eben dieser Autonomen verstehen. Aber nein, in der Pressemeldung zu den Ereignissen rund um den G20-Gipfel bezeichnet das „Welcom to hell“-Bündnis diese Tage auch noch als „erfolgreich“?! Geht’s noch?
Ich bin so was von sauer, eigentlich müsste ich ein Schild malen oder so was. Sauer auf die Polizeiführung, die anscheinend eine Eskalation der Lage nicht nur in Kauf genommen, sondern teilweise auch provoziert hat. Ich bin sauer auf die Autonomen, die meinten nicht nur marodierend durch die Stadt zu ziehen, sondern das auch noch als „erfolgreich“ bezeichnen zu müssen. So richtig sauer auf die Idioten, die nicht nur gegen Sachen, sondern auch gegen Menschen (Ja, verdammt, in den Polizeiuniformen stecken Menschen!) gewalttätig wurden. Sauer auf die Menschen, die Gewalt relativieren. Und nicht zuletzt sauer auf alle die, die jetzt ganz schnell mit Schuldzuweisungen sind.
Es ist aber nicht so einfach, wie viele tun. Ohne Frage liegt die Verantwortung für die Straftaten, die in den Tagen in Hamburg begangen wurden eben genau diejenigen, die sie begangen haben. Weder rechtfertigt irgendeine noch so überzogene Aktion der Polizei die Randale noch war das alles das Werk von eingeschleusten Provokateuren der Polizei (ich will nicht leugnen, dass es solche geben mag, aber ganz sicher nicht in der Zahl und für Aktionen in so einem Umfang). Und ja, auch die Polizei(führung) hat Fehler gemacht. Es wirkt niemals deeskalierend, wenn man Menschen in die Enge treibt, es ist niemals deeskalierend im Vorfeld solcher Veranstaltungen Gerichtsurteile zu ignorieren oder die Stimmung durch Panikmache und durch als überzogen wahrgenommene Sicherheitsvorkehrungen anzuheizen. Und auch wenn es ein Vermummungsverbot gibt, entbindet das die Polizeiführung nicht davon, verhältnismäßig vorzugehen und im Zweifel eben damit zu leben, dass eine kleine Minderheit von Demonstrationsteilnehmern vermummt ist, damit die große Mehrheit ihr Grundrecht wahrnehmen kann.
Man wird wahrscheinlich nicht alle Straftäter dieser Tage identifizieren und vor Gericht stellen können, aber die autonome Szene in Hamburg hat dadurch und nicht zuletzt durch ihre Reaktionen auf die Ereignisse sehr viel Rückhalt und Sympathie verloren, das könnte sich am Ende als der Beginn vom Ende der dortigen Szene herausstellen. Das wäre zwar auch ein Verlust, da in autonomen Zentren oft sehr viel Kreativität zusammen kommt und interessante Projekte entstehen, aber auch als autonomes Zentrum kann man es sich nicht mit allen Nachbarn verscherzen. Wenn dein Nachbar anfängt statt einmal im Monat plötzlich täglich laut bis in die Nacht zu feiern, dann hilft es irgendwann auch nicht mehr, dass er für dich die Hausordnung übernimmt, dann willst du einfach nur, dass er dich nachts wieder schlafen lässt. Das werden jetzt garantiert wieder einige falsch verstehen wollen, aber wären diese Gewaltaktionen tatsächlich gegen den Gipfel durchgeführt worden, wäre die Karre von Trump abgefackelt worden, da hätte es sehr wahrscheinlich sogar reichlich Verständnis für gegeben. Nur um es klar zu stellen: Ich befürworte auch solche Aktionen nicht, ich denke nur laut darüber nach, wie diese im Vergleich zu den stattgefunden Krawallen in der Öffentlichkeit aufgenommen worden wären. Aber man hat halt das Motto „Nicht dort scheißen, wo man isst“ vergessen, doofe Idee und man gewinnt keine Sympathien zurück, wenn man dann auch noch mit dem Sankt-Florian-Prinzip ankommt („Heiliger St. Florian verschon’ mein Haus, zünd’ andere an.“).
Andere Fragen wären zum Beispiel, wie es sein kann, dass scheinbar auch Gruppen von Randalierern in Hör- oder sogar Sichtweite von Polizisten ihrem „Tagwerk“ nachgehen konnten. Nein, ich meine nicht die Stunden im Schanzenviertel, da halte ich es für plausibel, dass die Polizeiführung die Polizisten nicht in Lebensgefahr bringen wollte, so lange es „nur“ um Sachbeschädigung ging (wer es nicht mitbekommen hat: von Dächern an den Einfahrten ins Viertel haben Arschlöcher Gehwegplatten und Molotovcoktails auf anrückende Polizeikräfte geschmissen – diese Dächer mussten erst von SEK-Teams geräumt werden). Nein, tagsüber, nach der ersten Nacht. Wie kann es sein, dass die Polizei beobachten konnte, dass Randalierer aus einem Camp losgezogen sind und randaliert haben? Beobachtung schön und gut, aber hätte man da nicht was tun müssen und können?
Es wird da noch sehr viel zu untersuchen und aufzuarbeiten geben, es wurden einfach zu viele Fehler von zu vielen Beteiligten gemacht. Und es bleibt zu hoffen, dass diese Aufarbeitung passiert: sachlich und differenziert und ohne irgendwas gegeneinander aufwiegen zu wollen und ohne Pauschalverurteilungen. Nein, es gibt kein „Fünf brennende Autos wiegen 10 grundlos geknüppelte Demonstranten auf“. Und auch kein „Linke Demonstrationen verbieten und Vermummte sind ja alles per se Gewalttäter“.
Und explodieren möchte ich, wenn ich mir vorstelle, dass zehntausende in Hamburg friedlich, kreativ und laut gegen die Politik der G20 und für eine bessere Politik demonstriert haben, aber die Berichterstattung und die öffentliche Diskussion zu Hamburg erweckt den Eindruck, es hätte nur die Krawalle gegeben. Man könnte den Eindruck gewinnen, der friedliche Protest wäre in Hamburg die Ausnahme gewesen (und ja, wenn ich jetzt über das ganze Thema blogge, mache ich es auch nicht wirklich besser, ist mir schon klar).
Übrigens: Ich hatte mich in den letzten Jahren häufiger mit Menschen unterhalten, die bestimmte Formen der Gewalt im politischen Kampf für legitim halten. Ohne diese Haltung zu teilen, kann ich zumindest deren Argumentation nachvollziehen, dass zum Beispiel die Zerstörung von Polizeifahrzeugen als Angriff auf die „Infrastruktur des Gegners“ legitim sein könnte. Diese Argumentation ergibt zumindest innerhalb eines Weltbilds Sinn, in dem der Staat nicht demokratisch, sondern faschistisch ist. Ohne dieses Weltbild zu teilen, ich kann es zumindest noch nachvollziehen, wie man auf der Basis solche Ideen haben kann. Ich kann es aber absolut nicht nachvollziehen, wie und in welchem Weltbild man sich einreden kann, dass blindwütige Zerstörung und die Gefährdung von Menschenleben Teil eines legitimen politischen Kampfs sein könnten. Und es beruhigt mich ja irgendwie, dass auch manche Autonome, die die Zerstörung von „Infrastruktur des Gegners“ für legitim halten, angesichts der Ereignisse in Hamburg ähnlich wütend und ratlos sind und keine Erklärung dafür haben, was das mit Politik zu tun haben soll. Immerhin, es gibt also noch so was wie Hoffnung…
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